Ein Pfarrer erzählt:
Im Studio Birmingham der British Broadcasting Corporation (BBC) gibt es eine wöchentliche einstündige kirchliche Sendung, die „Morning call“ (zu Deutsch: „Rufen Sie doch mal an!“) heißt und direkt ausgestrahlt wird. Zwei oder drei Pfarrer sitzen im Studio und schlagen kurz das Thema des Morgens an.
An einem Morgen war ich dabei, als ich mich einige Zeit als deutscher Auslandspfarrer in Birmingham aufhielt. Das Thema hieß „beten“. Kaum war das Stichwort gefallen, hatten die Hörer das Wort: Die Anrufe werden unmittelbar auf Sendung geschaltet. Es bot sich die ganze Palette unterschiedlichster Reaktionen zum Thema „beten“: mal einverständlich, mal überrascht oder ratlos, aber auch zynisch. Doch plötzlich drohte der Sendung die Luft auszugehen: „Ich bin Alice“, machte sich eine Anruferin mit schweren Atemzügen mühsam verständlich, „39 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder; ich habe Krebs und weiß, dass ich bald sterben werde. Ich frage Sie um Gottes willen, was soll mir ein Gebet noch nützen? Bitte speisen Sie mich jetzt nicht mit einem goldenen Spruch ab.“ Nach diesen Sätzen sah man im Studio Folgendes: Die drei Geistlichen im Live-Aquarium, also hinter der Trennscheibe zwischen Aufnahme und Technik, erstarrten zu Salzsäulen; aber davor drängte sich in Sekundenschnelle alles an die Glasscheibe, das bis dahin nur routiniert eine Sendung ‚gefahren’ hatte: Techniker, Redakteure, zufällig Anwesende: was nun? Der anglikanische Propst von Birmingham, der die Sendung moderierte, starrte aus dem Fenster, hinter dem die Sonne in lebhaften Farben spielte. Dann fasste er die erschütterte und neugierige Versammlung hinter dem Studioglas ins Auge, die zu signalisieren schien: Not kennt kein Gebet. Todesangst wird kalt gegessen. Die Sekunden fielen wie Steine, nur vor dem Fenster tanzten Sonne und Farben, Schatten und Blätter ungerührt, ein Ballett der Lebensfreude. Da sagte der Propst: „Alice, als Jesus im Garten von Gethsemane seinen göttlichen Vater händeringend anflehte, ihm den furchtbaren Tod am Kreuz zu ersparen, da blieb der Himmel stumm.“ Durch die Zuschauer ging ein Ruck, damit hatten sie nicht gerechnet. Der Propst, der das beobachtete, zuckte mit keiner Wimper: „Aber das Schlimmste, Alice, war, dass nicht nur der Himmel stumm blieb. Auch seine besten Freunde waren verstummt: Er hatte sie mitgenommen, um mit ihnen gemeinsam die Last der letzten Stunden zu tragen. Aber sie waren einfach eingeschlafen und hatten sich von seinen Tränen distanziert.“ Jetzt bohrte sich der Blick des Propstes förmlich in die Versammlung hinter der Scheibe: „Ich sehe jetzt hier keinen Einzigen schlafen, obwohl sie dir alle fremd sind; sie sind alle außer sich und bei dir. Um diesen Augenblick hätte dich Jesus in Gethsemane beneidet.“ Der Propst faltete die Hände, und obwohl ihm das niemand nachmachte, veränderte doch jeder im Studio seine Haltung; man sah keine einzige Hand mehr in der Tasche oder an einer Zigarette: Die Konzentration im Studio nahm sich aus wie ein Gottesdienst. Niemand überhörte die Todesangst von Alice. Sie ließ eine lange Pause, bis sie sagte: „Ich danke euch“ – und auflegte. Wie viel Hörer mochten in diesem Augenblick mit Alice gewacht haben? Und wenn auch die meisten von ihnen das Beten verlernt haben, an diesem Morgen in Birmingham wogen sie schwerer als die Jünger Jesu in der Nacht von Gethsemane. Vielleicht war es für Alice ein Zeichen des Himmels.
(Siegfried Muntz)
Aus: Siegfried Munz: Sie hören die Morgenandacht … Geschichten aus der Bibel, respektlos nacherzählt, © Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1982.)